Sonntag, 19. Oktober 2014

Schulpferdestories: Wuschel Vol.I

Ok, manche würden sicherlich sagen, eine braune, nicht allzu große, nicht allzu gut gebaute Stute ohne spektakuläre Grundgangarten, außergewöhnlichem Sprungvermögen oder gar Papiere wäre langweilig.
Wenn man sie so in ihrer Boxe beim Heu mümmeln oder draußen beim Grasen beobachtet, könnte man diesen Eindruck auch bestätigen.
Aber ausser diesen Eigenschaften plus dem wirklich unspektakulären Namen "Wuschel" hatte diese Stute  einiges zu bieten und zwar etwas, dass man mit Geld nicht kaufen kann: Sie hatte Charakter!
Ich würde sogar soweit gehen, sie als Phänomen zu bezeichnen. Gefunden habe ich dieses Phänomen in einer kleinen Reitschule im Wittgensteiner Land, wo ich zwei Jahre als Reitlehrerin tätig war und so im Kontakt und Dialog mit Wuschel stand.
Wie gesagt, sie war klein und braun und zu einem Turnier hatte sie es bis dahin auch noch nie geschafft. Sie trug tagein, tagaus Reitschüler jeglicher Coleur und bekam ihr Futter dafür. Normal halt.
Was mich an ihr nach Dienstantritt jedoch absolut faszinierte, war, dass sie mir, der Neuen, vor Augen hielt, in welchem Ausbildungszustand sich die jeweiligen ReiterInnen befanden. Man kennt das ja: Man kommt in die Bahn, stellt sich kurz vor und fragt die ReiterInnen, was sie schon gelernt haben. Und von da an muss der Filter im Hirn Großes leisten, denn jede/r will natürlich glänzen und so kommt es schon mal zu - sagen wir mal- Übertreibungen.
Wer auf Wuschel sass, brauchte eigentlich gar nichts zu sagen, denn Wuschel war unbestechlich und zeigte sofort die Stärken und Schwächen ihres Reiters auf! Und diesen untrüglichen Instinkt knipste sie in dem Moment an, wo der Fuss des Reiters zum Aufsitzen in den linken Bügel trat.
Dabei war sie (ich sag mal, an unfruchtbaren Tagen) niemals gemein oder hinterhältig, sondern stellte sich einfach auf die Mittellinie und beendete die Unterrichtseinheit bereits nach ein paar Minuten Schritt, wenn vom Reiter gar nichts kam oder aber sie präsentierte sich beim aufwärmenden Leichttraben in bester Vorwärts-Abwärts-Manier, so richtig toll mit Abschnauben und lockerem Schweifpendeln und im besten Fall auch in der Galoppphase rund und im idealen Tempo unterwegs. Ein Quell der Freude war es dann, ihr zuzuschauen, denn dann wirkte sie wirklich wie ein hochgezüchtetes edles Dressurpferd!
In Wahrheit stammte sie - wie so viele Schulpferde zu der Zeit - aus Polen, das heisst, sie hat bereits eine harte Schule durchgemacht mit Fahren und Reiten. Ihre zeitweise Widersetzlichkeit in bestimmten Situationen verwiesen darauf, dass sie diese Phase nie vergessen hat. Ihr brauchte man nicht mit scharfen Gebissen, Peitschenknallen oder Sporen zu kommen! Dann machte sie direkt "zu" und war auch nicht bereit, für die Dauer dieser Reitstunde wieder mitzumachen. Pech gehabt!
Mit anderen Worten, auf Wuschel konnte man prima Reiten lernen, wenn man denn lernen wollte und nicht für 45 Minuten einen Reitroboter ohne eigene Ideen mieten wollte. Denn das war Wuschel nicht.
Sie konnte vieles sein: Von zickig, stur, guckig, buckelig, maulig bis hin zu leistungsbereit und eine Lebensversicherung im Gelände. Nur eines war sie niemals und da konnte ich mir auch selbst ein Bild von oben machen, denn sowas hatte ich auch noch nie erlebt: Sie war absolut nicht davon zu überzeugen, dass das Überwinden von Stangen, egal ob am Boden oder in einer Auflage liegend, in irgendeiner Form Sinn machen würde.
Weil ich in meinen Stunden gerne irgendwas in die Bahn werfe, ob Pylonen, Cavaletti, Trabstangen oder auch mal Teppichfliesen, verstieg ich mich in die Idee, der kleinen Wuschel mal den Sprung über ein kleines halb aufgestelltes Cavaletti schmackhaft zu machen.  Ich kannte sie nun schon länger, hatte eine gute Reiterin für sie ausgesucht und vielleicht würde sie ja Gefallen daran finden. Dachte ich in meiner grenzenlosen Naivität.
Diese Stunde war am nächsten Tag an wenigstens drei Schulen im Umkreis Schulhofgespräch und ich mag Dem Da Oben heute noch dafür danken, dass zu der Zeit weder Facebook noch Twitter noch internetfähige Handys so weit verbreitet waren.
Nein, ich bin nicht von Wuschel runtergefallen. Aber sie hat mir so eine Lektion erteilt, dass ich voller Demut mein Haupt neige und seitdem die These "Ein Pferd lässt sich nicht zum Springen zwingen" sehr überzeugend  vertreten kann.
Es trug sie zu wie folgt: Die Reiterin schaffte es leider nicht, Wuschel auch nur in die Nähe des Cavalettis zu reiten. Nicht alleine, nicht hinter einem Ziehpferd her, überhaupt nicht. Wuschel blieb wie angewachsen stehen und zeigte uns ihren polnischen Dickschädel, sie brummte sogar recht angewidert, als ich versuchte, sie an der Hand hinzuführen.
Da mein westfälischer Dickkopf aber hier Oberhand erlangte, bat ich die Schülerin abzusitzen und mir ihren Platz im Sattel "mal kurz" zu überlassen, was sie bereitwillig tat.
Oben im Reiterstübchen wurde diese Szene übrigens sehr interessiert beobachtet.
Ich setzte mir also meinen Helm auf und schwang mich auf Wuschel. Durch mein Korrekturreiten kannte ich sie recht gut von oben und wir kamen eigentlich immer klar. Aber nicht hier und nicht heute.
Ich nahm die Zügel auf und merkte sofort, wie sich ihr Körper spannte wie ein Flitzebogen.
Wuschel würde niemals steigen oder richtig böse bocken, aber sie hatte andere Mittel auf Lager, die dem Reiter klarmachen: Ich will das nicht!
Eins davon packte sie heute aus.
Ich ritt sie erstmal vor-abwärts auf dem Zirkel, wir galoppierten ein wenig mehr vorwärts und sobald ich nur dachte "zum Cavaletti hin" wohlgemerkt auf der anderen Seite der Bahn, haute die die Bremse rein, dass ich nur der Springausbildung auf meiner Stute zu verdanken hatte, dass ich nicht geradeaus weiterflog. Knieschluss ist ein guter Freund.
Andere Hand, nochmal Galöppchen, nochmal hinreiten (wollen).
Diesmal bewies mir Wuschel, dass sie auch Seitengänge im Galopp beherrschte. Ihr Schnauben ging aber in Richtung "Wütend werden" und ich parierte durch zum Schritt, um mich wie zufällig dem Minisprung zu nähern. Hinter ihrem besten Kumpel, dem Pony "Doni" (eigentlich Donatus) hinterher, schlichen wir geradezu auf die Mittellinie, wo ich das Ding aufgestellt hatte.
Die Abdrücke der Nasen an der Scheibe vom Reiterstübchen hatten sich mittlerweile verdreifacht. Alle wollten gucken, was Wuschel mit mir macht.
Doni trabte artig (der war immer brav und der Liebling der jüngeren Reitschüler, ein tolles Pony!) über das Cavaletti und wurde dafür von seiner Reiterin dankbar umarmt.
Wuschel zockelte tatsächlich einen Meter in die richtige Richtung hinterher und als ich schon dachte "Jetzt klappts!" und mir schon innerlich auf die Schulter klopfte, da setzte sie ihre Hinterhand unter und ....
ja, was war das denn? Es ging rückwärts, aber nicht im Schritt, sondern...
Wuschel galoppierte plötzlich, zwei Meter vor dem Cavaletti auf der Stelle und haute dann den Rückwärtsgang rein!
Sowas hatte ich noch nicht erlebt und danach auch nie wieder bis heute.
Ich habe das akzeptiert. Wuschel zeigt also eher die Lektionen der Hohen Schule, als dass sie ihre kleinen Hüfchen über ein halbes Cavaletti hebt. Das ist ein Statement, dem nicht mehr viel entgegenzusetzen ist.
Die Nasen an der Scheibe klebten fest und die Augen dahinter waren doppelt so groß wie normal.
Ich lobte die Stute, egal ob pädagogisch wertvoll oder nicht und liess ihre Reiterin auf einem anderen Pferd über das Cavaletti hüpfen, damit sie auch ein-zweimal hüpfen kann.
Wuschel habe ich nie mehr in der Bahn mit Stangenarbeit belästigt. Und ich glaube, sie war mir dankbar dafür. Sie dankte es mir, indem sie mit Anfängern an der Longe unübertroffen gehorsam und geradezu behütend agierte und - ich finde, das ist wesentlich wertvoller. ;-)

Ich mochte Wuschel sehr gerne, sie wurde eine Weidefreundin von meiner Copine und deshalb verdient ihre Geschichte eine Fortsetzung. Sie war wirklich sehr unterhaltsam, die nur scheinbar langweilige Braune.

Liebe Pferdegrüße vom
Copinchen (und lasst eure Pferde Pferde sein!) :-)



1 Kommentar:

Empfohlener Beitrag

Eine weihnachtliche Soap-Opera aus irgendeinem Mehrzweckstall im Münsterland! Die HauptdarstellerInnen: Mäxchen Romi aka "...